JAHRESKREIS
33. WOCHE - DONNERSTAG
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JESUS
WEINT UM JERUSALEM
Das
menschliche Empfinden Jesu.
Das Evangelium hilft uns, das Menschsein Christi zu betrachten.
Mit Christus empfinden.
I. Von
der Westseite des Ölbergs herabkommend, sah Jesus vor sich Jerusalem liegen, das
damals 30.000 Einwohner zählte, bekrönt von seinem Tempel: »Der äußere Anblick
des Tempels bot alles dar, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten
mit schweren goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang im
hellsten Feuerglanz und blendete das Auge gleich den Strahlen des Tagesgestirns«
notiert der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius Ende des 1.
Jahrhunderts.1»Es war das letzte Mal, daß Jesus die heilige Stadt betrat. Viele
Jünger begleiteten ihn und begannen,
freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie
erlebt hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn2.
Doch als Jesus die Stadt zu seinen Füßen sah,
weinte er über sie. Auf
die jubelnde Menge muß das verstörend gewirkt haben - doch der Herr sieht nicht
das Gegenwärtige, sondern das Kommende.
Jesus
stand vor Augen, wie die Stadt, die er so sehr liebte, zerstört werden würde.
Dort hatte er die Frohe Botschaft verkündet und große Wunder gewirkt, aber die
meisten Einwohner hatte das nicht weiter berührt:
Wenn doch auch du an diesem Tag
erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen
verborgen. Es wird eine Zeit kommen, in der deine Feinde rings um dich einen
Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden
dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein auf dem anderen lassen.3
Wir
wollen in die Mitte unserer Betrachtung nicht die Erfüllung der Weissagung,
sondern das menschliche Empfinden des Herrn, seine Traurigkeit stellen:
denn du hast die
Zeit der Gnade nicht erkannt. Warum hatte sich Jerusalem nicht
seinem Werben geöffnet? Kaum vierzig Jahre sollten vergehen, und Jesu
Prophezeiung über das Ende der Stadt würde furchtbare Wirklichkeit werden. Die
Juden revoltierten gegen die Römer, eroberten die Burg Antonia, machten die
Besatzung nieder und stellten das tägliche Opfer für den Kaiser im Tempel ein.
Die Antwort der Besatzer war vernichtend: das Land wurde verwüstet, die
Bevölkerung niedergemacht oder als Kriegsgefangene und Sklaven verschleppt, der
Tempel brannte aus.
Jesus
weint nicht über den Glanz der Steine, der nicht mehr sein wird, sondern wegen
der Menschen - wegen jedes einzelnen. Wie menschlich er ist. Er, »vollkommener
Gott, vollkommener Mensch«4, liebt seine Freunde mit einer Liebe, die nichts
ausschließt, was zur Liebe gehört: weder die Freude des Wiedersehens noch die
Trauer über den Tod. Johannes überliefert uns ein Geschehen, das sich ebenfalls
unweit von Jerusalern, in Betanien, abspielte. Jesu Freund Lazarus ist
gestorben. Die Schwester des Toten, Maria, eilt zum Herrn.
Als Jesus sah, wie sie weinte und wie
auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt
und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr,
komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Umstehenden sind berührt von
seinem spontanen Gefühlsausdruck:
Seht, wie lieb er ihn hatte!
sagten sie5.
Wie den
Lazarus erreicht Jesu Liebe alle Menschen - für jeden hat er das Leben
hingegeben. Seine Tränen sind sinnfälliger Ausdruck der göttlichen Liebe zu den
Menschen. Jetzt, in dieser Zeit des Gebetes, wollen wir sie ohne falsche
Sentimentalität ein wenig betrachten. Mehr als alle Worte lassen uns diese
Tränen des Herrn die Tiefe und Zartheit seiner Gefühle uns gegenüber ahnen. Ihm
ist es nicht gleichgültig, wie wir auf sein Angebot der Freundschaft und des
Heiles antworten. Ihm ist es nicht gleichgültig, ob wir uns nur ab und zu auf
seine Liebe besinnen oder ob wir uns wirklich Zeit für ihn nehmen.
»Der
Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein
unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe
geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt
und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. (...)
Der Mensch, der sich selbst in der Tiefe verstehen will - nicht nur nach
unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur
scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muß sich mit seiner
Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem
Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn
eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung
>aneignen< und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser
tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt,
sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst.«6
II. Was
ist das christliche Leben anders als ein ständiges Vertiefen der Freundschaft
mit Jesus? Christus nachfolgen heißt ihm hier und jetzt begegnen, mit einer
Liebe, die immer wieder auch in Taten greifbar wird. »Christus lebt, Christus
ist nicht eine Gestalt, die vorübergegangen ist, die einmal lebte und dann
verschwand und uns eine wunderbare Erinnerung und ein ergreifendes Beispiel
hinterließ.«7
Er lebt mitten unter uns. Unsere Freuden und Nöte sind ihm nicht gleichgültig,
denn »der
Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen
vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht,
mit menschlichem Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt.
Geboren aus Maria der Jungfrau ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in
allem uns gleich außer der Sünde (vgl.
Hebr 4,15).
Als
unschuldiges Opferlamm hat er freiwillig sein Blut vergossen und uns das Leben
erworben. In ihm hat Gott uns mit sich und untereinander versöhnt und der
Knechtschaft des Teufels und der Sünde entrissen. So kann jeder von uns mit dem
Apostel sagen: Der Sohn Gottes
hat mich geliebt und sich für mich
dahingegeben (Gal
2,20).«8
Für mich, als wäre ich der einzige auf Erden.
Die
heiligste Menschheit Jesu ist die Brücke, die zum Vater führt. Das Weinen des
Herrn um die geliebte Stadt steht stellvertretend für alle Situationen, in denen
wir entscheidende Augenblicke unserer persönlichen Geschichte nicht wahrnehmen.
Sind wir nicht schon seinen »Heimsuchungen= aus dem Weg gegangen - welch
anregendes Wort, das in der Umgangssprache sowohl Nähe eines Liebenden als auch
Kreuz bedeuten kann! Wir denken an all die Gelegenheiten, in denen wir Anlaß für
Christi Tränen gewesen sind: widersetzlich gegen seine Gnade, glichgültig
gegenüber seinem Werben um unsere Freundschaft, unempfänglich für seine Gaben.
Ein Weg,
in unserer Liebe zu ihm zu wachsen, ist die betrachtende Versenkung ins
Evangelium. Dort entdecken wir - und nicht selten zwischen den Zeilen -, wie
menschlich Jesus und wie nahe er uns ist. Wenn er sich am glühenden Mittag -
müde von der
Reise9
- am Jakobsbrunnen niederläßt, erschöpft und durstig, dann spüren wir - über die
sachliche Anmerkung hinaus - im Gespräch mit der samaritischen Frau eine
liebende Wachheit des Herzens, die ihren Lebenswandel neu ausrichten möchte. Und
am Ende jenes anstrengenden Tages, als er mitten im Seesturm
hinten im Boot
auf einem Kissen lag und schlief10,
ist er wirklich erschöpft, so wie wir es manchmal sind.
Wenn er
Menschen sieht, die leiden, leidet er mit:
Als er ausstieg und die vielen
Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken, die bei ihnen
waren.11
Unsere körperlichen Nöte lassen ihn nicht kalt.
»Wenn wir
bei der Arbeit, im Studium, in unseren apostolischen Aufgaben ermüden und wie
vor einer Mauer stehen, dann blicken wir auf Christus: auf den gütigen Jesus,
auf den ermüdeten Jesus, auf den hungrigen, den durstigen Jesus. Wie leicht
machst du es uns, Herr, dich zu lieben! Du zeigst dich wie einer von uns, die
Sünde ausgenommen, damit es uns wirklich greifbar deutlich wird, daß wir mit dir
zusammen unsere bösen Neigungen und unsere Schuld überwinden können.«12
III. Das
Weinen Jesu über die heilige Stadt ist nicht nur menschlich - es birgt auch ein
tiefes Geheimnis. Es ist das Geheimnis der menschlichen Freiheit: »Das
Entscheidungsrecht über sich selbst steht der Seele zu. Es ist das große
Geheimnis der persönlichen Freiheit, daß Gott selbst davor Halt macht. Er will
die Herrschaft über die geschaffenen Geister nur als ein freies Geschenk ihrer
Liebe. Er kennt die Gedanken des Herzens, er durchschaut die tiefsten Gründe und
Abgründe der Seele, in die ihr eigener Blick nicht dringt, wenn Gott sie nicht
eigens dafür erleuchtet. Aber er will nicht von ihr Besitz ergreifen, ohne daß
sie selbst es will. Doch tut er alles, um die freie Hingabe ihres Willens an den
Seinen als Geschenk ihrer Liebe zu erlangen und sie dadurch zur beseligenden
Vereinigung führen zu können.«13
Jesus hat
Dämonen ausgetrieben, Tote zum Leben erweckt, Zöllner und Sünder bekehrt, aber
er steht hilflos da angesichts Jerusalems, wie ohnmächtig gegenüber der
Herzenshärte seiner Bewohner. Die leidvolle Erfahrung Jesu wiederholt sich
jedesmal, wenn sich Menschen vorsätzlich gegen seine Liebe sperren. »Daß Jesus
über Jerusalem weinte - ich verstehe es gut: es waren Tränen seiner göttlichen
Liebe...«14
Wir
Christen können den Meister nur dann verstehen, wenn wir uns in die Empfindungen
seines Herzens hineinversetzen. Und wenn wir einmal zusehen müssen, wie jemand
seine Freiheit mißbraucht, Rat und freundschaftliche Hilfe ausschlägt, ja, ihnen
- verrannt in Irrtum oder Leidenschaft - aus dem Weg geht, dann bleibt uns »nur
noch«
das Gebet, getragen von der Zuversicht, daß Gott auch da noch weiterhilft, wo
wir am Ende unserer Weisheit angelangt sind.
Mit
Christus empfinden bedeutet auch, einen Menschen selbst dann zu schätzen, wenn
uns diese oder jene Eigenart an ihm stört oder wenn diese oder jene Schwäche das
Verständnis erschwert. Von Christus lernen wir, sehr menschlich zu sein, immer
verstehend und mit dem sportlichen Ehrgeiz, jenen, die uns nahestehen, das Leben
liebenswerter, angenehmer zu machen, das Ziel und nicht die Mühe zu sehen.
Vielleicht erfordert dies von uns, eine Gewohnheit aufzugeben, die andere nervt,
und unsere Zeit, so kostbar, weil begrenzt, den Nöten und Sorgen unserer
Mitmenschen zu widmen, ganz besonders dem Wohl ihrer Seele.
Bitten
wir Unsere Liebe Frau, sie möge uns ein Herz wie das Erlöserherz ihres Sohnes
geben, immer offen für alle, denen wir begegnen.
Josephus Flavius,
Bellum Iudaicum, 5,5,6.
- 2
Lk
19,37-38. -
3
Lk
19,41-44. -
4
Das
Athanasianische Glaubensbekenntnis. -
5
Joh
11,33-36. -
6 Johannes Paul II.,
Enz.
Redemptor hominis, 10. -
7 J.Escrivá,
Christus begegnen, 102. -
8 II.Vat.Konz., Konst.
Gaudium et spes, 22. -
9
Joh
4,6. -
10
Mk
4,38. -
11
Mt
14,14. -
12 J.Escrivá,
Freunde Gottes, 201. -
13 Edith Stein,
Im
verschlossenen Garten der Seele (Auswahl), Freiburg 1989, S.87. -
14
J.Escrivá,
Die Spur des Sämanns,
Nr.210.