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Francisco Fernández-Carvajal Hablar con Dios

JAHRESKREIS
33. WOCHE - DONNERSTAG

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JESUS WEINT UM JERUSALEM

Das menschliche Empfinden Jesu.
Das Evangelium hilft uns, das Menschsein Christi zu betrachten.
Mit Christus empfinden.

I. Von der Westseite des Ölbergs herabkommend, sah Jesus vor sich Jerusalem liegen, das damals 30.000 Einwohner zählte, bekrönt von seinem Tempel: »Der äußere Anblick des Tempels bot alles dar, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten mit schweren goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang im hellsten Feuerglanz und blendete das Auge gleich den Strahlen des Tagesgestirns« notiert der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius Ende des 1. Jahrhunderts.1»Es war das letzte Mal, daß Jesus die heilige Stadt betrat. Viele Jünger begleiteten ihn und begannen, freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie erlebt hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn2. Doch als Jesus die Stadt zu seinen Füßen sah, weinte er über sie. Auf die jubelnde Menge muß das verstörend gewirkt haben - doch der Herr sieht nicht das Gegenwärtige, sondern das Kommende.

Jesus stand vor Augen, wie die Stadt, die er so sehr liebte, zerstört werden würde. Dort hatte er die Frohe Botschaft verkündet und große Wunder gewirkt, aber die meisten Einwohner hatte das nicht weiter berührt: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen. Es wird eine Zeit kommen, in der deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein auf dem anderen lassen.3

Wir wollen in die Mitte unserer Betrachtung nicht die Erfüllung der Weissagung, sondern das menschliche Empfinden des Herrn, seine Traurigkeit stellen: denn du hast die Zeit der Gnade nicht erkannt. Warum hatte sich Jerusalem nicht seinem Werben geöffnet? Kaum vierzig Jahre sollten vergehen, und Jesu Prophezeiung über das Ende der Stadt würde furchtbare Wirklichkeit werden. Die Juden revoltierten gegen die Römer, eroberten die Burg Antonia, machten die Besatzung nieder und stellten das tägliche Opfer für den Kaiser im Tempel ein. Die Antwort der Besatzer war vernichtend: das Land wurde verwüstet, die Bevölkerung niedergemacht oder als Kriegsgefangene und Sklaven verschleppt, der Tempel brannte aus.

Jesus weint nicht über den Glanz der Steine, der nicht mehr sein wird, sondern wegen der Menschen - wegen jedes einzelnen. Wie menschlich er ist. Er, »vollkommener Gott, vollkommener Mensch«4, liebt seine Freunde mit einer Liebe, die nichts ausschließt, was zur Liebe gehört: weder die Freude des Wiedersehens noch die Trauer über den Tod. Johannes überliefert uns ein Geschehen, das sich ebenfalls unweit von Jerusalern, in Betanien, abspielte. Jesu Freund Lazarus ist gestorben. Die Schwester des Toten, Maria, eilt zum Herrn. Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Umstehenden sind berührt von seinem spontanen Gefühlsausdruck: Seht, wie lieb er ihn hatte! sagten sie5.

Wie den Lazarus erreicht Jesu Liebe alle Menschen - für jeden hat er das Leben hingegeben. Seine Tränen sind sinnfälliger Ausdruck der göttlichen Liebe zu den Menschen. Jetzt, in dieser Zeit des Gebetes, wollen wir sie ohne falsche Sentimentalität ein wenig betrachten. Mehr als alle Worte lassen uns diese Tränen des Herrn die Tiefe und Zartheit seiner Gefühle uns gegenüber ahnen. Ihm ist es nicht gleichgültig, wie wir auf sein Angebot der Freundschaft und des Heiles antworten. Ihm ist es nicht gleichgültig, ob wir uns nur ab und zu auf seine Liebe besinnen oder ob wir uns wirklich Zeit für ihn nehmen.

»Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. (...) Der Mensch, der sich selbst in der Tiefe verstehen will - nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung >aneignen< und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt, sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst.«6

II. Was ist das christliche Leben anders als ein ständiges Vertiefen der Freundschaft mit Jesus? Christus nachfolgen heißt ihm hier und jetzt begegnen, mit einer Liebe, die immer wieder auch in Taten greifbar wird. »Christus lebt, Christus ist nicht eine Gestalt, die vorübergegangen ist, die einmal lebte und dann verschwand und uns eine wunderbare Erinnerung und ein ergreifendes Beispiel hinterließ.«7 Er lebt mitten unter uns. Unsere Freuden und Nöte sind ihm nicht gleichgültig, denn »der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit menschlichem Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria der Jungfrau ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde (vgl. Hebr 4,15).

Als unschuldiges Opferlamm hat er freiwillig sein Blut vergossen und uns das Leben erworben. In ihm hat Gott uns mit sich und untereinander versöhnt und der Knechtschaft des Teufels und der Sünde entrissen. So kann jeder von uns mit dem Apostel sagen: Der Sohn Gottes hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben (Gal 2,20).«8 Für mich, als wäre ich der einzige auf Erden.

Die heiligste Menschheit Jesu ist die Brücke, die zum Vater führt. Das Weinen des Herrn um die geliebte Stadt steht stellvertretend für alle Situationen, in denen wir entscheidende Augenblicke unserer persönlichen Geschichte nicht wahrnehmen. Sind wir nicht schon seinen »Heimsuchungen= aus dem Weg gegangen - welch anregendes Wort, das in der Umgangssprache sowohl Nähe eines Liebenden als auch Kreuz bedeuten kann! Wir denken an all die Gelegenheiten, in denen wir Anlaß für Christi Tränen gewesen sind: widersetzlich gegen seine Gnade, glichgültig gegenüber seinem Werben um unsere Freundschaft, unempfänglich für seine Gaben.

Ein Weg, in unserer Liebe zu ihm zu wachsen, ist die betrachtende Versenkung ins Evangelium. Dort entdecken wir - und nicht selten zwischen den Zeilen -, wie menschlich Jesus und wie nahe er uns ist. Wenn er sich am glühenden Mittag - müde von der Reise9 - am Jakobsbrunnen niederläßt, erschöpft und durstig, dann spüren wir - über die sachliche Anmerkung hinaus - im Gespräch mit der samaritischen Frau eine liebende Wachheit des Herzens, die ihren Lebenswandel neu ausrichten möchte. Und am Ende jenes anstrengenden Tages, als er mitten im Seesturm hinten im Boot auf einem Kissen lag und schlief10, ist er wirklich erschöpft, so wie wir es manchmal sind.

Wenn er Menschen sieht, die leiden, leidet er mit: Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken, die bei ihnen waren.11 Unsere körperlichen Nöte lassen ihn nicht kalt.

»Wenn wir bei der Arbeit, im Studium, in unseren apostolischen Aufgaben ermüden und wie vor einer Mauer stehen, dann blicken wir auf Christus: auf den gütigen Jesus, auf den ermüdeten Jesus, auf den hungrigen, den durstigen Jesus. Wie leicht machst du es uns, Herr, dich zu lieben! Du zeigst dich wie einer von uns, die Sünde ausgenommen, damit es uns wirklich greifbar deutlich wird, daß wir mit dir zusammen unsere bösen Neigungen und unsere Schuld überwinden können.«12

III. Das Weinen Jesu über die heilige Stadt ist nicht nur menschlich - es birgt auch ein tiefes Geheimnis. Es ist das Geheimnis der menschlichen Freiheit: »Das Entscheidungsrecht über sich selbst steht der Seele zu. Es ist das große Geheimnis der persönlichen Freiheit, daß Gott selbst davor Halt macht. Er will die Herrschaft über die geschaffenen Geister nur als ein freies Geschenk ihrer Liebe. Er kennt die Gedanken des Herzens, er durchschaut die tiefsten Gründe und Abgründe der Seele, in die ihr eigener Blick nicht dringt, wenn Gott sie nicht eigens dafür erleuchtet. Aber er will nicht von ihr Besitz ergreifen, ohne daß sie selbst es will. Doch tut er alles, um die freie Hingabe ihres Willens an den Seinen als Geschenk ihrer Liebe zu erlangen und sie dadurch zur beseligenden Vereinigung führen zu können.«13

Jesus hat Dämonen ausgetrieben, Tote zum Leben erweckt, Zöllner und Sünder bekehrt, aber er steht hilflos da angesichts Jerusalems, wie ohnmächtig gegenüber der Herzenshärte seiner Bewohner. Die leidvolle Erfahrung Jesu wiederholt sich jedesmal, wenn sich Menschen vorsätzlich gegen seine Liebe sperren. »Daß Jesus über Jerusalem weinte - ich verstehe es gut: es waren Tränen seiner göttlichen Liebe...«14

Wir Christen können den Meister nur dann verstehen, wenn wir uns in die Empfindungen seines Herzens hineinversetzen. Und wenn wir einmal zusehen müssen, wie jemand seine Freiheit mißbraucht, Rat und freundschaftliche Hilfe ausschlägt, ja, ihnen - verrannt in Irrtum oder Leidenschaft - aus dem Weg geht, dann bleibt uns »nur noch« das Gebet, getragen von der Zuversicht, daß Gott auch da noch weiterhilft, wo wir am Ende unserer Weisheit angelangt sind.

Mit Christus empfinden bedeutet auch, einen Menschen selbst dann zu schätzen, wenn uns diese oder jene Eigenart an ihm stört oder wenn diese oder jene Schwäche das Verständnis erschwert. Von Christus lernen wir, sehr menschlich zu sein, immer verstehend und mit dem sportlichen Ehrgeiz, jenen, die uns nahestehen, das Leben liebenswerter, angenehmer zu machen, das Ziel und nicht die Mühe zu sehen. Vielleicht erfordert dies von uns, eine Gewohnheit aufzugeben, die andere nervt, und unsere Zeit, so kostbar, weil begrenzt, den Nöten und Sorgen unserer Mitmenschen zu widmen, ganz besonders dem Wohl ihrer Seele.

Bitten wir Unsere Liebe Frau, sie möge uns ein Herz wie das Erlöserherz ihres Sohnes geben, immer offen für alle, denen wir begegnen.

Josephus Flavius, Bellum Iudaicum, 5,5,6. - 2 Lk 19,37-38. - 3 Lk 19,41-44. - 4 Das Athanasianische Glaubensbekenntnis. - 5 Joh 11,33-36. - 6 Johannes Paul II., Enz. Redemptor hominis, 10. - 7 J.Escrivá, Christus begegnen, 102. - 8 II.Vat.Konz., Konst. Gaudium et spes, 22. - 9 Joh 4,6. - 10 Mk 4,38. - 11 Mt 14,14. - 12 J.Escrivá, Freunde Gottes, 201. - 13 Edith Stein, Im verschlossenen Garten der Seele (Auswahl), Freiburg 1989, S.87. - 14 J.Escrivá, Die Spur des Sämanns, Nr.210.

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